Am 23. März 1967 gründete Heinrich Schwenker mit anderen Interessierten den “ VEREIN ZUR GEMEINNÜTZIGEN FÖRDERUNG DER SONDERSCHÜLER e.V.” und wurde dessen erster Vorsitzender. Der Verein hatte sich die schwere Aufgabe gestellt, junge behinderte Menschen in den normalen Arbeitsprozess einzugliedern, um sie somit in die Lage zu versetzen, ihren Lebensunterhalt durch eine gute und gesellschaftlich anerkannte Berufsausbildung langfristig zu sichern. Ein schwere Aufgabe, da in sofern der damalige “Hilfsschüler”, keinerlei Lobby hatte und bestenfalls als Hilfsarbeiter oder Handlanger auf dem Arbeitsmarkt eine Chance bekam. Für die Meisten von Ihnen war ein Leben als Arbeitsloser oder Sozialhilfeempfänger vorprogrammiert. Dieses hieß wiederum eine Existenz auf Kosten des Staates und somit der Allgemeinheit. Für alle Seiten ein unbefriedigende Lösung. Um die gesteckten Ziele zu erreichen, mußten viele Berge versetzt werden, wie: Der Status der Betroffenen mußte verändert werden. So wurde im Laufe der Zeit aus dem Wort “Hilfsschüler” der Sonderschüler und aus der “Hilfsschule” die Sonderschule (Der Begriff “Hilfsschüler” war damals auch ein Schimpfwort) Die Sonderschulen mußten reformiert werden. Lehrkräfte mußten spezialisiert werden Die Schulgesetze mußten geändert werden. Ausbildungsrichtlinien und Richtlinien von Gesellenprüfungen mußten verändert werden. Gesetze zur Durchführung eines Berufsgrundschuljahres für Sonderschüler mußten erlassen werden. Lehrherren und Betriebe mußten davon überzeugt werden, Sonderschülern Berufspraktikten zu ermöglichen. Spezielle Förderunterrichte mußten ins Leben gerufen, organisiert und finanziert werden Nebenbei bedurfte es einen ungeheuerlichen Aufwand an Überzeugungsarbeit, sowohl bei den Betroffenen als auch bei denen, die als Zielgruppe des Vereines galten, um die geplanten Projekte erfolgreich durchzuführen. Die Finanzierung des Vorhabens sollte aus Mitgliederbeiträgen, Spenden und anderen Zuwendungen erfolgen. Hier stellt sich nun die Frage, wie kam es dazu, dass sich Männer und Frauen zusammensetzten, sich so ein Mammutprojekt auferlegten und jahrelang ihre Freizeit und wohl auch teilweise ihr Familienleben opferten. Ich kann hier leider nur über die Gründe meines Vater´s berichten und die begannen eigentlich mit der Geburt meines Bruders. Er kam im Mai 1950 als gesunder “Wonneproppen” auf diese Welt und war, wohl wie alle Neuankömmlinge, mal freundlich, mal tösend laut schreiend, mal zugänglich und auch mal abweisend. Eben ein ganz normales gesundes Baby. Er entwickelte sich in den kommenden Wochen und Monaten prächtig. Allerdings machten sich, mit dem Beginn des 2. Lebensjahr, meine Eltern sorgen, weil sie den Jungen nur sehr schwer, teilweise gar nicht verstehen konnten. Der Einzige, der mit ihm normal kommunizieren konnte, war ich. Ich wurde somit schon mit 4 Jahren zum Dolmetscher. “ Dieter, was hat K. gesagt? “ wurde ein häufiges Vokabular meiner Mutter. Auch im folgenden Jahr änderte sich seine Aussprache nicht zum Besseren. Er hatte einen Sprachfehler. Mit den Lauten C, CH, L, M, N, S, SCH und Z hatte er enorme Probleme. Ab dem 4. Lebensjahr kümmerte sich ein Therapeut um dieses Problem. Die Aussprache meines Bruders wurde besser und man konnte ihn in seinem 6. Lebensjahr sehr gut verstehen. Er hat seine Muttersprache als Fremdsprache erlernt. Mit Beginn der Schulzeit, er wurde in der Grundschule “ Schule an der Oderstraße “ eingeschult, stellte man fest, das er nun Probleme mit dem Schreiben und Lesen hatte. Er konnte die o. g. Buchstaben nicht so, wie er sie las, schriftlich wiedergeben. Während seines 4. Schuljahres zogen wir um und er wurde dadurch in die Haupt- und Grundschule an der Karl-Lerbs-Straße eingeschult. Auch hier wurde man dem Problem nicht Herr. Nach dem ersten Halbjahr des 5. Schuljahres gaben die Lehrer auf und verwiesen meine Bruder an die Sonderschule “ An der Valckenburgstraße”, obwohl mein Bruderherz in allen anderen Schulfächern überdurchschnittlich gut war. Diese Aktion der Schulbehörde paßte meinem Vater gar nicht. Bereits die ersten Informationen brachten zu Tage, dass der allgemeine Lehrstoff dem Lehrplan einer Haupt- und Grundschule weit hinterherhinkte. Dieses bedeutete aber auch, das mein Bruder zum Ende der Schulzeit erhebliche Leistungsdefizite in den Fächern hinnehmen mußte, in denen er bisher keine Probleme hatte, weil der nötige Stoff aus Zeitmangel, bedingt durch die Zusammensetzungen der Klassen, nicht vermittelt werden konnte. In den Klassen wurden eben Lernbehinderte unterrichtet, egal ob sie nur Probleme mit dem Schreiben, dem Lesen, dem Rechnen oder aber überhaupt Schwierigkeiten hatten, den vermittelten Lehrstoff aufzunehmen. Dieses wiederum hieß, in allen Fächern auf den Letzten warten und erst dann weiter zum nächsten Thema. Also keine Chance auf einem normalen Schulabschluß für die Betroffenen. Hier fand Heinrich Schwenker auch den Ansatzpunkt zu seinem Arrangement. Hier mußte etwas getan werden. Er krempelte die Ärmel auf, suchte Kontakte, überzeugte andere, gewann Lehrkräfte und Therapeuten für sein Vorhaben, lief in den Schulbehörden Sturm, putzte Klinken, um Gehör zu finden, und gewann die Unterstützung von Eltern betroffener Kindern und Jugendlichen. Die Idee und die Grundstruktur seines Vereines wurde also Ende 1962 geboren.
Als Elternklassensprecher, später als Schulelternsprecher kämpfte er für Veränderungen im Sonderschulsystem. Als Sprecher des Zentralelternbeirat aller bundesdeutschen Sonderschulen fand er große Unterstützung, Zustimmung und die nötige Lobby, um bei den Behörden das notwendige Gehör zu finden. Im Bundeselternbeirat, eine bundesweite Elternvertretung aller deutschen Schulen, gründete er einen “Ausschuß für die Sonderschulen” mit. Die Probleme der Sonderschulen konnten nun mit dem Gewicht des Bundeselternbeirates in die Öffentlichkeit getragen werden. Der Erfolg für die Veränderungen der Schulstruktur der Sonderschulen ließ lange Zeit auf sich warten, aber er blieb dennoch nicht aus. Das beste Beispiel für den tatsächlichen Erfolg meines Vaters und des Vereines ist wiederum mein Bruder.
Bereits noch in seinem 7. Schuljahr wurden die Schulklassen spezialisiert. Gleiche Lernschwäche in die gleiche Klasse. In den nicht behinderten Fächern konnte das Lerntempo stark angehoben werden. Noch während der 8. Klasse nahm er an diversen Berufspraktiken teil, um seine optimale Eignung für einen passenden Lehrberuf zu finden.
Nach der Vereinsgründung wurde auf Initiative der Vereinsführung von den oben aufgeführten Punkten, einer nach dem anderen in Angriff genommen und abgearbeitet. In der 9. Klasse wurden gezielte Berufspraktiken durchgeführt. Bei meinem Bruder waren es Berufspraktiken in dem Handwerksberuf des “ Maler und Lackierers”, mit dem Ziel, die getroffene Berufswahl zu prüfen und erste praktische Kenntnisse zu erwerben.
Nach Entlassung aus der Sonderschule nahm er freiwillig an einer neuen Möglichkeit eines, von der Stadt Bremen, geförderten Berufsgrundschuljahres, teil. Hier wurden Schulkenntnisse aufgefrischt, vertieft, weitergebildet und berufsbezogene Kenntnisse gelehrt. Eine echte Vorbereitung auf den späteren Beruf. Nach Abschluß des Vorbereitungsjahres begann er eine normale Lehre als “ Maler und Lackierer “. Absolvierte eine dreijährige Lehrzeit, inklusive der notwendigen Berufsschule. Der Verein hatte inzwischen erreicht, das die theoretischen Gesellenprüfungen für Sonderschüler auf ein vermindertes Maß der Anforderungen zurückgefahren wurden und dass das Hauptmerkmal der Gesellenprüfung auf praktische Kenntnisse und deren Ausführungen gelegt wurde. Mein Bruder bestand die Gesellenprüfung im Praktischen mit “GUT” und in der Theorie mit “AUSREICHEND”. Er blieb noch ein paar Jahre bei seinem Ausbilder im Betrieb und wechselte dann als Betriebsmaler und -lackierer zu einem Betrieb im öffentlichen Dienst. Dort ist er nun über 30 Jahre. Er war noch nie in seinem Leben arbeitslos oder anderweitig finanziell bedürftig. So, wie meinem Bruder, erging es noch vielen anderen jungen Frauen und Männern. Leider liegen mir keine Zahlen vor, wie vielen jungen Menschen es gelang, mit einem Sonderschulabschluß einen abgeschlossenen Lehrberuf zu erlernen und so seine Frau oder seinen Mann im Leben zu stehen. Die geänderte Sonderschulreformen, die Berufspratika´s, die speziellen Förderungsprogramme und die veränderten Prüfungsanforderungen bilden meines Wissens noch heute die Basis der Förderung von Sonderschüler. Für seinen unermüdlichen Einsatz erhielt Heinrich Schwenker 1975 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Es gab niemanden, der ihm dieses nicht gegönnt hätte. |